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Interview mit The Gabriel Construct (06.09.2013)

The Gabriel Construct

Gabriel Lucas Riccio hat viel zu erzählen und eine Menge Musik im Kopf. Feuer frei für einen außergewöhnlichen Künstler mit ebenfalls nicht alltäglicher Progressive-Kost ...

Weshalb hast du eine klassische musikalische Laufbahn eingeschlagen?

Ich wollte eigentlich Mathematik studieren, nahm dann aber ein paar Musikstunden nebenbei und fand den Fokus auf Orchester ziemlich ernüchternd, weil ich mich nicht sonderlich für Klassik interessierte und andere Stile kennenlernen wollte. Aus irgendeinem Grund blieb aber etwas davon hängen, und ich steckte zunehmend mehr Zeit hinein, sodass die anderen Fächer, die ich eigentlich hauptsächlich belegt hatte, zur Nebensache wurden. Die klassische Musiktheorie lässt sich eben überall anwenden, wie ich herausfand, und letztlich ging es dabei eher darum, eine bestimmte Denkhaltung anzunehmen, als nach Zahlen zu malen. Mein Lehrer in Komposition half mir dabei, mit Gewohnheiten zu brechen und mich auf Aspekte zu konzentrieren, die ich bislang außer Acht gelassen hatte. Weiterhin erforschte ich den klassischen Bereich, wobei ich eine große Leidenschaft dafür entwickelte, bis die Ausbildung vorbeiging.

Wie bist du auf das Konzept von "Interior City" gekommen?

Es geht ja um den Kampf eines Einzelnen, der stellvertretend für die Gesellschaft steht, mit dem Bewusstsein, dass er eben auf der Welt ist und das Leben so leben muss, wie es sich ergibt. Als Kind lebte ich in zwei Welten gleichzeitig, wobei man die eine auf meine Fantasie zurückführen mag, aber egal: Ich erlebte bestimmte Dinge, die mir sehr real vorkamen. Je älter ich wurde, desto seltener geschah das. Teils wünschte ich mir den früheren Zustand wieder herbei, andererseits hatte ich aber auch Angst davor. ‘Arrival in a Distant Land’ spricht diese Erfahrungen an, während ‘Ranting Prophet’ davon handelt, mit den Tatsachen der Existenz klarkommen zu können. Dadurch gewann ich einen anderen Blickwinkel auf die Welt. In der Schule hatte ich es als Kind nicht leicht, weshalb kaum ein Lehrer wusste, was er mit mir anfangen sollte. Ich wurde depressiv, mehrmals in meinem Leben, und hatte oft Selbstmordgedanken, fühlte mich missverstanden ... ‘Fear of Humanity’ bezieht sich direkt darauf und erwähnt auch einige meiner Bedenken über das, was ich Verwestlichung nennen würde. Das nimmt dan paranoide Ausmaße an im Text. ‘My Alien Father’ erinnert ans Interesse meines Vaters an Verschwörungtheorien bezüglich Außerirdischer, spielt aber auch auf eines der Hauptthemen der Scheibe an: Eskapismus. ‘Retreat Underground’ habe ich zuallererst in einem Traum gehört. Es beschreibt die Reise ins Innere, die durch Selbstisolation erfolgt. Man erkennt dabei, dass viele der Ansichten, die man hegt, von außen konditioniert wurden, der Familie, Gesellschaft und Geschichte - dem kollektiven Unterbewusstsein. Nur wenn man sich seinen Ängsten und Ansichten stellt, kann man sie überwinden und sich umprogrammieren. Zuletzt tut mein Protagonist dies in ‘Curing Somatization’, und zwar durch die RoHun-Therapie. Dabei handelt es sich um einen Heilungsansatz der Alternativmedizin, eine Form von psychischer OP, mit deren Hilfe ich meine Ängste und Glaubensvorstellungen hinterfragen und überkommen konnte.

Unter welchen Gesichtspunkten hast du die Musiker für die Umsetzung gewählt?

Diese Art von Musik zu spielen ist vor allem rhythmisch eine Herausforderung, wozu nicht wenig Ausdauer notwendig wird. David Stivelman von DEBBIE DOES DALLAS kenne ich schon seit der ersten Klasse, Sophia Uddin und Soren Larson waren mit mir auf dem College, zumal ich vorübergehend mit Sophia zusammenlebte. Was die anderen Musiker betrifft, so ergab es sich einfach von selbst. Einmal ging ich zum Arzt wegen einer Untersuchung, wo mich die Krankenschwester an Garrett Davis verwies, einen Tontechniker hier aus der Gegend. Zunächst dachte ich an irgendeinen Heimproduzenten, aber dann erfuhr ich, dass er für Train Records arbeitete und ein richtiges Studio besaß. Als er meine Demos hörte, empfahl er mir Drummer Travis Orbin, nachdem ich eigentlich selbst hatte trommeln wollen. Ich kannte Travis von der lokalen Band EVER SINCE RADIO und PERIPHERY, hätte aber nie gedacht, dass er mit mir zusammenarbeiten wolle. Er liebte mein Zeug aber und lebte nur 40 Minuten von mir entfernt, wie sich herausstellte. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Travis stellte den Kontakt zu Bassist Tom Murphy her, den er ja von PERIPHERY kannte. Durch Garrett wiederum geriet ich an den Produzenten Taylor Larson, der das Album letztlich abmischte und masterte.

Wie genau komponierst du? Deine Musik weist jegliche Pop- oder Rock-Strukturen von sich.

Manches fällt mir einfach so ein, anderes improvisiere ich. "Interior City" stand in weiten Teilen schon im Vorfeld, ehe ich mit der Aufnahme anfing. Meistens besteht der Hauptteil meiner Arbeit darin, Piano-Ideen für eine volle Bandbesetzung umzuschreiben. Der Gesang ist dabei das Schwierigste, aber eine bestimmte Formel gibt es nicht. Dennoch basieren die meisten Stücke auf dem Album auf Pop-Strukturen, die zwei längsten hingegen, ‘Defense Highway’ und ‘Curing Somatization’ orientieren sich stärker an Kammermusik, gestalteten sich also etwas schwieriger, wobei ich vieles verworfen habe. Harmonische beziehe ich mich sowohl auf Jazz als auch Rockmusik und die Klassik des 20. Jahrhunderts. Für die Platte wählte ich eine eher dissonante Harmonik, während meine neuen Stücke versöhnlicher klingen werden. Das Schrille ergab sich aus den Gesangsharmonien und Geigen-Parts, wobei die Akkorde eben komplexer wurden. Damals hörte ich viel Messiaen, studierte seine Chorwerke und Art der Orchestrierung, die mich stark beeinflusst hat.

Welche Einflüsse hast du außerdem?

Zu Beginn des Schreibprozesses sicherlich FAILURE, eine Spacerock-Band aus den frühen neunziger Jahren. Ich lernte sie auf der Highschool kennen und hörte mir ihre Sachen heraus, um sie auf Klavier umzusetzen, wobei ich auch mein allererstes eigenes Stück komponierte. 'Defense Highway' und 'Inner Sanctum' waren zu Anfang der zweite und dritte Satz dieses Stückes und orientieren sich stark an FAILURE. Gegen Ende war es wie gesagt Olivier Messiaen. Mein Lehrer am Swarthmore College, Gerald Levinson, war einer seiner Studenten und lernte auch unter dem Komponisten George Crumb aus Philadelphia, weshalb auch ich in deren Musik eintauchte. ‘Arrival in a Distant Land’ beantwortet wohl die Frage, wie es klänge, wenn Crumb Singer-Songwriter wäre, und zitiert auch kurz Messiaens Transkription der Gesänge der Nachtigall; er war ja Hobby-Vogelkundler. 'Ranting Prophet’ beruft sich ebenfalls auf eines seiner frühen Werke, während das Ende von ‘Fear of Humanity’ auf seiner Orchestrierung fußt und ‘Curing Somatization’ seine Rhythmik verwendet.

Wo sollte man beginnen, wenn man sich in klassischer Musik zurechtfinden will?

Das hängt vom persönlichen Interesse ab. Ich bevorzuge das 20. Jahrhundert und halte zum Beispiel Strawinskys 'Le sacre du printemps' und Debussy’s 'Prélude à l'après-midi d'un faune’ für leicht verdauliche Einstiegsmöglichkeiten. Messiaens ‘Les Offrandes Oubliees’ bietet sich auch an, und wenn man dann weitergeht, empfehle ich seine beiden bekanntesten Werke, die 'Turangalila', eine bombastische Sinfonie, und sein 'Quatuor pour la fin du temps', ein eher intimies Stück. György Ligetis stößt zunächst ab, auch wegen der Verwendung seiner Stücke in Filmen wie "Der Exorzist" oder durch Stanley Kubrick, aber 'Lontano' ist ein klasse Ausgangspunkt genauso wie sein erstes Streicherquartett in der Tradition von Bartók. Was Amerika angeht, sollte man Steve Reich hören, insbesondere sein 'Octet', ‘Music for a Large Ensemble’ und ‘You Are (Variations)’. Er bietet sich wegen seiner diatonischen Harmonik und dem regulären rhythmischen Puls für Rock-Fans an, zumal er ja auch MOGWAI und RADIOHEAD beeinflusst hat. ‘Hallelujah Junction’ von John Adams ist ebenfalls ein ganz tolles zeitgenössisches Werk.
Traditioneller geht es bei Brahms’ Vierter Sinfonie zu, ein klasse Sprungbrett in die Romantik des 19. Jahrhunderts, und auch Beethovens Großformate sind ausgezeichnet. Man sollte seine Sinfonien im Ganzen hören statt nur die bekannten Teile, gerade auch die Neunte, und ‘Appassionata’ in einer guten Aufführung ist mindestens so intensiv wie ein Metal-Gig. Klassische Musik steht vor dem Problem, dass sie auf viele elitär wirkt, aber man kann sie auch genießen, wenn man nicht ausgebildeter Musik ist, denn sie wurde nur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich für ein Bildungspublikum geschrieben. Heute gibt es ja immer noch Schulen, die nichts über moderne Musik vermitteln. Ich bin mir sicher, jeder Fan von Prog Rock, extremem Metal oder nur Soundtracks von Filmen findet irgendwo im klassischen Bereich etwas, das ihm gefällt, denn diese Genres haben mehr damit gemein, als man denken mag. Man muss nicht alles mögen, aber zumindest wertschätzen kann man es und davon ausgehend weiter vorstoßen.

Fällt es dir manchmal schwer, vor diesem Hintergrund schlicht genießen zu können, was du hörst?

Nein, das hat mir meine Ausbildung nicht verdorben. Vielmehr strecke ich mich heute umso weiter aus, was Stile betrifft. Auf dem College fand ich auch Gefallen an Musikarten, die ich zuvor nicht gemocht hatte, Jazz und seine Unterarten zum Beispiel, wobei modaler und freier Jazz zu meinen Favoriten zählen. Außerdem lerne ich Gamelan kennen, Musik von Bali und Java, während ich mich mit Punk immer noch schwer tue. Ich bewahre mir aber ein offenes Ohr und schließe nichts aus. Nur beim Schreiben meiner eigenen Musik habe ich Probleme damit, unkritisch zu bleiben, weil ich vieles über Gebühr analysiere. Zum Glück habe ich mittlerweile etwas Abstand von "Interior City" gewonnen und kann schon wieder etwas Neues angehen.

Lebst du von der Musik?

Ich arbeite Vollzeit mit Musik, kann aber noch nicht so richtig davon leben. Für CITY & COLOUR transkribierte ich einiges, um Noten für sie zu erstellen, und habe hier und dort auch bei Gesangsaufnahmen ausgeholfen, lerne aber immer noch, mich im gegenwärtigen Musikbetrieb zu behaupten. Dazu muss man vieles sehr gut können, also versuche ich, so viel aufzusaugen wie möglich.

Würdest du dein Material live aufführen?

Definitiv! Ich suche mir in Chicago gerade Leute zusammen. "Interior City" wird auf der Bühne anders klingen, im Kern aber das Gleiche bleiben. Die Studio-Arrangements lassen sich live unmöglich so umsetzen, aber daran wäre mir sowieso nicht gelegen, weil ich es reizlos finde, eine exakte Replik zum Besten zu geben, denn die Erfahrung sollte eine andere sein. Wir werden uns stärker aufs Improvisieren einschärfen, sodass jede Show einzigartig wird.

Wirst du stilistisch in Zukunft etwas ganz Anderes machen?

Die Aufnahmen zum nächsten Album laufen schon, aber ich arbeite auch unter anderem Namen an unterschiedlicher Musik, beispielsweise mit OCULPLANES, einer Prog-Band aus Ridgely in Maryland. Dort singe ich und spiele Keyboard, nicht zu vergessen, dass ich Produzent und Toningenieur ihres Albums bin sowie Texte mitschreibe. Weiterhin mache ich mit Travis Orbin Pop und starte vielleicht noch ein drittes Projekt, auch wenn ich mich momentan vor allem auf "Interior City" konzentriere. Bei BEING wird man noch einen Gastauftritt von mir zu hören bekommen, genauer gesagt auf der Scheibe "Anthropocene", dann spiele ich Keyboard und singe auf der "Divided"-EP von ITSTEETH.

Viel zu tun also, wir bedanken uns und harren der Dinge, die da noch kommen werden.

Andreas Schiffmann (Info)
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