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Die Zukunft des Rock´n´Roll

04.06.2020

Die Zukunft des Rock´n´Roll

Konzertveranstalter und Eventlocations vor dem Aus. Eine Analyse.

Jahrelang gab es für die großen Konzertveranstalter nur eine Devise: „The Sky Is The Limit“. Aber auch kleinere Veranstalter und Eventlocations blühten infolge stetig steigender Nachfrage nach dem Livekick regelrecht auf, zumal das Touren insbesondere für kleinere Bands von existenzieller Bedeutung ist und neben dem Verkauf von Merchandise-Artikeln die einzig belastbare Einnahmequelle bildet.

Das hat sich mit dem erstmaligen Auftritt des neuen Global Players COVID-19 grundlegend geändert. Im Zuge der weltweiten Pandemie und der damit verbundenen Konzertabsagen verlor beispielsweise LIVE NATION rund 33% seines Börsenwerts, der Schaden für kleinere Veranstalter weltweit geht in Summe ebenfalls in die Milliarden, ohne dass dies an irgendwelchen Börsenschauplätzen die Charts beeinflussen würde. Die Wirkung hingegen ist nicht weniger verheerend.

Die Rückkehr der Branche zur Normalität scheint in weite Ferne gerückt. Gregg Perloff, CEO und Gründer von ANOTHER PLANET ENTERTAINMENT, kommt zu einer düsteren Prognose: „2020 ist durch, dasselbe gilt für die Hälfte von 2021.“

Joe Berchtold, Präsident von Live Nation, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: „Unsere Hoffnung ist die, dass wir 2021 wieder eine große Sommersaison haben werden.“ Die Chance auf Großveranstaltungen wie ROCK AM RING oder WACKEN schätzen verschiedene Organisatoren ohne einen Impfstoff als eher gering ein. Zudem wird sich das Konzerterlebnis der Zukunft grundlegend von dem der Prä-Pandemiezeiten unterscheiden. Glaubt man den Äußerungen von Verantwortlichen, könnten Fiebermessung, berührungsloses Bestellen und Bezahlen, sowie Desinfektionsstationen schon bald zum Standard gehören.

Die Übergangslösung könnte bedeuten: Kleinere Shows und Open Air Events. Hierbei ist daran gedacht, Konzertsäle zunächst nur zu einem Drittel zu belegen, um die Abstandsregelungen einhalten zu können. Das könnte dazu führen, dass Künstler mehrere Shows in ein und derselben Location spielen müssten, vor wechselndem Publikum. Ob dies an einem Abend durchführbar wäre, sei einmal dahingestellt, Gastspiele an mehreren, aufeinanderfolgenden Abenden wären eventuell denkbar, was zu einer weiteren Kostenexplosion führen könnte. Der Trend, Liveshows in Autokinos abzuhalten, kann bestenfalls als Übergangslösung angesehen werden.

Kleinere Open Airs würden nach Aussage Jonathan Daniels, Mitbegründer von CRUSH MUSIC, wohl als erstes wieder bespielt werden können. CRUSH MUSIC ist u.a. für das Management von WEEZER, GREEN DAY oder FALL OUT BOY zuständig.

Die Entwicklung der Ticketpreise ist ein weiterer, entscheidender Punkt.

Mega Acts, die bisher in Stadien gastiert haben, könnten eventuell versucht sein, für intimere Shows in kleineren Locations die Preisspirale weiter anzuziehen. Mike Luba, der Liveevents für Stars wie ARTIC MONKEYS oder JAMIROQUAI organisiert, bezeichnet die aktuelle Situation als „Ground Zero“. Luba weiter: „Wir müssen alles über Bord werfen, was wir in den letzten Jahrzehnten als gegeben hingenommen haben.“

Die Rückkehr zum bisherigen Status Quo in der Konzertbranche wird aufgrund unterschiedlicher behördlicher Auflagen zunächst kaum möglich sein und Organisatoren wie Künstler vor erhebliche Probleme stellen. Sollten sich behördliche Auflagen weiter gravierend unterscheiden, wären Tourneen von Stadt zu Stadt im bisherigen Stil schlicht nicht mehr möglich. Eine solche Entwicklung würde nach Ansicht von Insidern die Lage für kleinere Clubs weiter verschärfen, zumal schon jetzt schätzungsweise 60% aller Locations vor dem Aus stehen.

Somit tut sich ein weiterer Teufelskreis auf, denn wo es keine Clubs mehr gibt, die den Künstlern ihre Bühnen zur Verfügung stellen können, wird es auch in der Folge für kleinere Bands immer schwieriger werden, geeignete Locations zu finden. Der Colos-Saal in Aschaffenburg beispielsweise sagte erst kürzlich alle Veranstaltungen bis zum 31. August 2020 ab, obwohl dort keine Großveranstaltungen stattfinden, für die das das bundesweite Verbot gelten würde.

Patron Claus Berninger bemerkt zur Situation der Clubs: „Nach 70 Tagen Lockdown, vom Virus und der Politik erzwungen, hat der Colos-Saal nun die Nase voll und entscheidet selbst: Der Club bleibt bis zum 31.8.2020 definitiv geschlossen. Alle geplanten Konzerte für Frühjahr und Sommer sind verschoben oder komplett abgesagt. 56 Veranstaltungen sind bislang ausgefallen. Etwa 60 weitere waren im Sommer bis Ende August noch geplant. Wir haben aber nach wie vor keine Rechtssicherheit bezüglich der Frage, wann wir denn die Arbeit wieder aufnehmen können und werden sie auch in absehbarer Zeit nicht erhalten. Daher steigen wir vorerst aus, machen eine Pause und warten die weitere Entwicklung ab.“

Mit dieser Entscheidung steht der Colos-Saal nicht alleine auf weiter Flur, viele weitere Konzertveranstalter und Konzerthallen haben im Zuge der Krise alle Konzerte gecancelt und versuchen, mit Crowdfunding und dem Verkauf von Merch-Artikeln über die Runden zu kommen.

Unter dem Motto: „Wir waren die ersten, die zugemacht haben und werden wohl die letzten sein, die wieder aufmachen können“, veröffentlichte der Verband der Musikspielstätten einen offenen Brief an die Entscheidungsträger in der Politik, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, ein Massensterben der Clubs und somit der Bands und Kleinkünstler zu verhindern:

Um die geschlossenen Clubs und Musikspielstätten vor einer Masseninsolvenz zu bewahren, benötigen wir dringend schnelle und passgenaue Hilfen, die unsere Fixkosten tragen und es ermöglichen, ein auf die Zukunft gerichtetes Kulturprogramm zu planen – das gleichermaßen Künstler*innen, Gesellschaft und Wirtschaft zugutekommt“.

Unterzeichnet haben das Schreiben mehr als 650 Mitglieder der LiveMusikKommission e.V., die zudem befürchten, dass einmal geschlossene Spiestätten aufgrund des enormen Kostendrucks in der Branche auf immer verloren sein werden.

Claus Berninger vom Colos-Saal bemerkt sarkastisch:

Nach den neuesten Richtlinien in Bayern, werden wir wohl die Ticket- und Getränkepreise verzehnfachen müssen, um weiterhin zurecht zu kommen.
Eigentlich kein Problem, oder? Das zahlt Ihr doch sicher gerne...?“

Somit steht nicht nur eine komplette Branche vor dem Ruin. In letzter Konsequenz geht es um die Zukunft des Rock´n´Roll, aber auch jeder anderen Stilrichtung populärer Musik und um die Musikkultur an sich, deren Fundament die mit Herzblut und Eigeninitiative agierenden Veranstalter, Bands und Künstler bilden.

Stefan Haarmann - Stellv. Chefredakteur (Info)